Eine Prüfung
Auf den folgenden Seiten unternehme ich den Versuch, Bücher, und zumeist sind dies Kinder- und Jugendbücher, darauf hin zu durchforsten, wie sie mein Leben in positiver Weise beeinflusst haben, wie sie gleichsam einen heilsamen Einfluss auf mich ausgeübt haben. Ich bin heute mehr denn je davon überzeugt, dass Bücher dazu in der Lage sind, deshalb, weil sie es, trotz, ich möchte sogar beinahe sagen, wegen ihres fiktionalen Charakters, vermögen eine Wirklichkeit in uns zu erzeugen, die unserer Seele als Blaupause ihrer eigenen Wahrheit dienen kann. Ich hoffe, dass es mir gelingt die Plausibilität dieses Gedankens am praktischen subjektiven Beispiel offen zu legen und noch viel mehr hoffe ich, dass auch andere von dieser, meiner Wahrheit, profitieren können. Der Zauber der Kindheit ermöglicht es uns, heilsame Verwandlungen in einer Tiefe und Intensität zu vollziehen, wie es kein anderer mir bekannter Zauber vermag. Darin sind wir der Liebe, der Quelle des Lebens und der Gesundheit so nah, dass wir ihren Atem beinahe wieder hören können. Kinderbücher helfen uns dabei, diesen wundersamen Zauber heraufzubeschwören. Dabei ist mir eines wichtig zu betonen: Ich behaupte nicht, dass diese Geschichten vom jeweiligen Autor in der Absicht geschrieben worden sind, die ich mit meiner Interpretation offenzulegen scheine; vielmehr stelle ich dar, welche Wirkung meine subjektive Interpretation auf mich gehabt hatte und was ich in diesen Geschichten und Erzählungen zu sehen imstande war.
Im Frühjahr des Jahres 2020, auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Corona-Pandemie und inmitten der heißen Phase meiner finalen Vorbereitung auf die schriftliche Heilpraktiker-Prüfung, genau zwei Tage vor diesem Termin, schenkte mir das Leben eine tiefe Erkenntnis, die mich bis auf den heutigen Tag beschäftigt und umtreibt: Sie zeigte mir meine Angst vor Drachen, die der Mensch seit Urzeiten tiefverwurzelt mit sich trägt, und dass es an der Zeit wäre, diese endlich zu besiegen. Doch ordnen wir die Dinge der Reihenfolge nach, sollte eine solche denn existieren.
An diesem Tag, einem Montag, gegen Vormittag, erhielt ich einen Anruf von dem für mich zuständigen Gesundheitsamt, dass meine Prüfung, auf die ich mich die letzten drei Jahre akribisch vorbereitet hatte, aufgrund der pandemischen Lage auf unbestimmte Zeit verschoben sei. Dieses Damoklesschwert hatte schon eine Weile über meinem Haupt hin und her geschwungen und doch war ich der närrischen Hoffnung erlegen, dass es mich im Gegensatz zu beinahe allen meinen Mit-Prüflingen verschonen könne. Dementsprechend groß und tief war meine Enttäuschung darüber ausgefallen und wenig später einer Leere und Perspektivlosigkeit gewichen, die mich, wie ich meinte, aufzufressen drohte. Ich fühlte mich wie gelähmt und mir schoss angesichts der im Vorfeld der Prüfung aufgebauten Spannung ein Bild in den Kopf, das mich mit einem zum Sprung angesetzten Tiger verglich, der als Bettvorleger gelandet war: nach all der großen Anstrengung und Anspannung fühlte ich mich hohl und ausgestopft.
Nach und nach entwickelte ich so die meisten der Gefühle, die eine entsprechend negative Farbpalette aufzuweisen hat; über Enttäuschung zu Wut, hinüber zur Ohnmacht und Verlassenheit und wieder zurück in allen nur erdenklichen Intensitäten und Varietäten. Mir blieb anscheinend nichts anderes zu tun als abzuwarten und das Opfer zu spielen und dies ist ehrlich gesagt, gerade nicht das, was ein Spiegel mir erlauben würde, in ihm zu sehen. Ich beschloss also aktiv zu werden und die politische Person, die irgendwo tief in meinem inneren Repertoire an persönlichem Puppentheater steckt, auf die Bühne des Spektakels treten zu lassen, welches sich eine Biographie nennt. Ich begann zu recherchieren, zu telefonieren, sehr engagierte und herzzerreißende, dabei wahnsinnig eloquente E-Mails zu schreiben, wie ich fand, kontaktierte mein Gesundheitsamt, Verbände, Ministerien, schließlich die Bundestagsfraktionen und den Bundestags-Abgeordneten meines Landkreises; alles selbstverständlich in der Absicht das Unabänderliche abzuwenden, um endlich doch noch zeitnah meine Prüfung absolvieren zu dürfen. Ob irgendetwas davon schließlich geholfen hatte meine Prüfung zu beschleunigen, darf freilich mit Fug und Recht bezweifelt werden, auch wenn ich bis heute nicht das Gegenteil beweisen kann.
Die Geburt des Drachen
War es anfangs ein gewisser Stolz gewesen, der mich ob meines Aktionismus erfüllt hatte, begann dieser sich allmählich in eine untergründige, nagende Angst zu verwandeln, die ich mir damit erklärte, dass ich mich mit den Mächtigen angelegt hätte, denen, die mich mit nur einem Wimpernschlag vernichten könnten. Dem rationalen Betrachter tritt womöglich dagegen völlig klar zu Bewusstsein, dass diese übermächtige Angst unbegründet, wenn nicht gar albern, -um nicht zu sagen kindisch -, erscheinen muss, und auch mir erschien merkwürdig, wenn auch nicht ganz von der Hand zu weisen, was in den Tiefen meiner Gefühlswelt vorging. Ich verglich mich insgeheim mit einem Bauern, dem durch einen einzigen unbedachten Feuerstoß des Drachen seine gesamte Ernte vernichtet worden war und der nun, mit einem Grottengiekser von Dolch bewaffnet, vor die Höhle des Drachen gezogen war, um diesen aufzufordern, solche Handlungen in Zukunft zu unterlassen und noch besser: für Entschädigung zu sorgen. So amüsant sich dies für den Moment anhören mag, gibt es doch recht genau wieder, wie ich mich in diesem Moment des Aktionismus gefühlt hatte: ich wähnte mich gleichsam existentiell bedroht. Ich begann mehr und mehr meinen Übermut zu verfluchen und zu wünschen, ich könnte, wie so viele andere in derartigen Situationen den Kopf einfach einziehen und abwarten, bis sich die Feuersbrunst des Drachen gelegt hätte.
Gleichzeitig begann ich mir auch die noch viel interessantere Frage zu stellen, woher dieses Bild des Drachen denn wohl stammen könne und warum es mir so anschaulich meine Gefühle zu schildern vermochte. Ich erinnerte mich, bereits ein weiteres Mal, bereits einige Jahre zuvor eine „innere Vision“ von mir gehabt zu haben. Ich hatte in einer Phase meines Lebens gesteckt, in der ich nicht mehr wusste, ob es noch Sinn machte, mein Studium weiter zu führen, da ich das Gefühl hatte, darüber alles bekommen zu haben, was ich für mein weiteres Leben bräuchte. Ich erinnere mich daran, wahnsinnig viel nichts getan zu haben, was darin bestand, auf meinem Bett zu liegen und in den Tag hinein zu träumen oder durch die Straßen von Mainz zu schlurfen und darauf zu warten, dass die Langeweile mich, um Martin Heidegger zu interpretieren, in den Zustand des tiefen, originären Denkens überführte. Was stattdessen dann eines Tages, als ich auf meinem Bett lag, passierte, war, dass vor meinem inneren Auge ein Wesen auftauchte, welches ich nach einigem Zögern als eine Mischung aus Drachen und Nilpferd identifizierte. Ich war einigermaßen überrascht, konnte mit diesem Bild jedoch zunächst nichts anfangen. Ehrlich gesagt fand ich es einigermaßen lächerlich und irgendwie peinlich und versuchte diesen Vorfall zu vergessen.
Schließlich aber, das muss dann schon Monate später gewesen sein, erinnerte ich mich an eine Figur aus einem Kinderbuch, die genau dieselben Merkmale aufwies: Nepomuk, der kleine Halbdrachen aus den Jim-Knopf-Büchern. Dennoch war mir immer noch nicht ganz klar, warum ich diese Vision provoziert hatte. Womöglich handelte es sich um charakterliche Übereinstimmungen zwischen jenem verschütteten inneren Anteil, der sich mir hier für den Bruchteil einer Sekunde offenbart hatte und seiner Vorlage aus einem Kinderbuch? Ich war eher skeptisch, um nicht zu sagen unwillig mich diesem unangenehmen Vergleich zu stellen, hatte aber im Lauf des Lebens mehrfach erfahren, wie ungeheuer bahnbrechend solche inneren Hinweise für meinen Fortschritt sein können. Ich zwang mich daher, den Charakter von Nepomuk heraufzubeschwören, um etwas über die wahren Gründe dieser Botschaft, die mein Unterbewusstsein mir so überaus rätselhaft gesendet hatte, herauszufinden.
Was mir hierbei sofort wieder einfiel, war seine, wie ich damals schon fand, ausgesprochen peinliche aber auch irgendwie drollige Eigenschaft, es höflich zu finden, wenn man sich vor ihm fürchtete. Nun gut, er war ein Halbdrache und Drachen mögen es nun einmal angemessen und höflich finden, wenn man sich vor ihnen fürchtet. So ist es ja auch im wahren Leben. Ein Drache aber, der zur Hälfte auch wie ein Nilpferd aussieht, wirkt auf die allermeisten Menschen nicht besonders furchterregend. Ich begann mich zögerlich und mit einer gewissen Scheu selbst zu befragen, ob auch ich es vielleicht als höflich empfinden könne, wenn sich vor mir gefürchtet wird, gerade weil auch ich diesen verhängnisvollen Nilpferd-Anteil in mir verspürte.
Ursachenforschung
Ich bin als jüngstes von vier Kindern aufgewachsen und verhältnismäßig spät nach meinen Geschwistern zur Welt gekommen; 5 Jahre nach meiner jüngsten Schwester. Meine Eltern, vor allem meine Mutter, mögen zu diesem Zeitpunkt schon ein wenig erziehungsmüde gewesen sein und so waren es über weite Strecken meine älteren Schwestern, die meine Erziehung übernommen hatten. Kinder sind nur sehr bedingt in der Lage ihre jüngeren Geschwister adäquat aufzuziehen und man kann es ihnen selbstverständlich nicht zum Vorwurf machen, wenn sie selbst unter dieser zu großen Verantwortung und ihrer daraus resultierenden Unfähigkeit leiden. Dennoch vermag es, glaube ich zu erklären, warum ich sehr unter dieser Situation litt, die mich, wie ich heute verstehe, in eine sehr defensive Grundhaltung gedrängt hatte. Auf mich musste man immer warten, so lautete einer der Hauptvorwürfe meiner Schwestern, ebenso beklagten sie die Ungerechtigkeit, dass ich keinerlei Aufgaben übertragen bekam und dass ich Freiheiten genossen hätte, für die meine Geschwister lang und ausdauernd hatten kämpfen müssen. Auch hatte meine Mutter während meiner frühen Kindheit eine grundlegende Wandlung durchgemacht, die sie erkennen ließ, dass ihr Jähzorn einer Therapie bedarf und dass ihre Kinder auch wenn möglich nicht darunter leiden sollten. Ich bin für diese Entwicklung und ihr aktives Engagement in dieser Sache wirklich sehr dankbar, da ich dadurch wesentlich seltener ihre teils heftigen Wutausbrüchen erlebte, wie meine älteren Geschwister.
Es verwundert mich also nicht, dass ich unter der Überfordertheit und dem daraus resultierenden Unwillen meiner Schwestern sehr zu leiden hatte. Auch habe ich beinahe mein ganzes Leben darum gekämpft mich selbst zu spüren, da ich mich immer wie ein nutzloses Anhängsel gefühlt habe, dass man eben irgendwie mit durchschleppen muss. „Dich hat der Esel im Galopp verloren“, pflegte meine Mutter manchmal mit einem Augenzwinkern und dem burschikosen Charme der Kriegsgeneration zu scherzen und war dabei doch wesentlich näher an meiner Wirklichkeit angekommen, als wir uns damals alle hätten ausmalen können. Es ist daher bis heute ein stark prägender und in gewissen Situationen hervorragender Charakterzug, dass ich Angst habe negativ aufzufallen, weil ich dazu gehören möchte. Andererseits neige ich in anderen Situationen gerade dazu gegen bestehende Hierarchien zu revoltieren und ihre Sinnhaftigkeit in Frage zu stellen. Es sind nur unterschiedliche Seiten derselben Medaille, die durch unterschiedliche Persönlichkeitsanteile repräsentiert werden. Manchmal scheine ich die Revolte und die Furcht, die ich dadurch vermeintlich auslösen kann, zu provozieren und auch zu genießen, anscheinend einfach deshalb, um mich zu spüren, -wenn man so will, um eine Identität aufzubauen.
Das erste Mal, dass ich in die Lage kam, mich auf diese Weise zu spüren, war als ich etwa 5 Jahre alt war. Ich hatte irgendetwas verbrochen, so redet es mir meine Erinnerung ein und befand mich in der verhassten Situation, einen gehörigen Rüffel meiner beiden Schwestern einstecken zu müssen. Während sie abwechselnd erregt auf mich einredeten, drehte ich mich trotzig auf einem Drehstuhl herum und wurde darin aus Wut oder vielleicht auch in der Hoffnung durch die Geschwindigkeit zu entfliehen immer schneller. Schließlich erwischte ich unabsichtlich, so will es meine Identitätserzählung, das Schienbein meiner jüngeren Schwester mit meinem Fuß, woraufhin sie vor Schmerz aufheulend, das Weite aufsuchte. Dies brachte meine ältere Schwester noch mehr in Rage und sie begann mir zusätzlich heftige Vorwürfe zu machen, woraufhin ich versuchte, durch Aufnahme von noch mehr Geschwindigkeit auf meinem Drehstuhl zu entfliehen. Das einzige Ergebnis, das ich jedoch erzielte, war, dass ich sie auf die gleiche Weise am Schienbein traf, woraufhin auch sie vor Schmerz schreiend den Schauplatz verließ. Ich kann gar nicht beschreiben, wie ungeheuerlich stolz und befriedigt ich in diesem Moment gewesen sein muss. Endlich hatte ich bewiesen, dass ich es wert war, gefürchtet zu werden. Ich spürte mich selbst. Das Nepomuk-Syndrom war geboren.
Als ich diesen Zusammenhang zwischen meiner eigenen Geschichte und der Figur des Nepomuk in Michael Endes Geschichten mit den Jahren immer ernster zu nehmen begann, versuchte ich mich schließlich an die Gesamt-Struktur der beiden Bände von Jim Knopf zu erinnern und die Geschichte auf ihren psychischen Wirklichkeitsgehalt hin zu durchkämmen: