„Hier aber war es, in diesem Pavillon, in dem kleinen Schaukelstuhl aus gelbem Rohr, wo er [Thomas Buddenbrook, B. Z] eines Tages vier volle Stunden lang mit wachsender Ergriffenheit in einem Buche las, das halb gesucht, halb zufällig in seine Hände geraten war … Nach dem zweiten Frühstück, die Cigarette im Mund, hatte er es im Rauchzimmer in einem tiefen Winkel des Bücherschrankes, hinter stattlichen Bänden versteckt, gefunden und sich erinnert, daß er es einst, vor Jahr und Tag beim Buchhändler zu einem Gelegenheitspreise achtlos erstanden hatte: ein ziemlich umfangreiches, auf dünnem und gelblichem Papier schlecht gedrucktes und schlecht geheftetes Werk, der zweite Teil nur eines berühmten metaphysischen Systems . Er hatte es mit sich in den Garten genommen und wandte nun, in tiefer Versunkenheit, Blatt um Blatt  …

Eine ungekannte, große und dankbare Zufriedenheit erfüllte ihn. Er empfand die unvergleichliche Genugtuung, zu sehen, wie ein gewaltig überlegenes Gehirn sich des Lebens, dieses so starken, grausamen und höhnischen Lebens bemächtigt, um es zu bezwingen und zu verurteilen … die Genugtuung des Leidenden, der vor der Kälte und Härte des Lebens sein Leiden beständig schamvoll und bösen Gewissens versteckt hielt und plötzlich aus der Hand eines Großen und Weisen die grundsätzliche und feierliche Berechtigung erhält, an der Welt zu leiden – dieser besten aller denkbaren Welten, von der mit spielendem Hohn bewiesen ward, daß sie die schlechteste aller denkbaren sei. Er begriff nicht alles; Prinzipien und Voraussetzungen blieben ihm unklar, und sein Sinn, in solcher Lektüre ungeübt, vermochte gewissen Gedankengängen nicht zu folgen. Aber gerade der Wechsel von Licht und Finsternis, von dumpfer Verständnislosigkeit, vagem Ahnen und plötzlicher Hellsicht hielt ihn in Atem, und die Stunden schwanden, ohne daß er vom Buch aufgeblickt oder auch nur seine Stellung im Stuhle verändert hätte. Er hatte anfänglich manche Seite ungelesen gelassen und rasch vorwärtsschreitend, unbewußt und eilig nach der Hauptsache, nach dem eigentlich Wichtigen verlangend, sich nur diesen oder jenen Abschnitt zu eigen gemacht, der ihn fesselte. Dann aber stieß er auf ein umfängliches Kapitel, das er vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchlas, mit festgeschlossenen Lippen und zusammengezogenen Brauen, ernst, mit einem vollkommen, beinahe erstorbenen, von keiner Regung des Lebens um ihn her beeinflußbaren Ernst in der Miene. Es trug aber dieses Kapitel den Titel »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich«.- Ihm fehlten wenige Zeilen, als um vier Uhr das Folgmädchen durch den Garten kam und ihn zu Tische bat. Er nickte, las die übrigen Sätze, schloß das Buch und blickte um sich … Er fühlte sein ganzes Wesen auf ungeheuerliche Art geweitet und von einer schweren, dunklen Trunkenheit erfüllt; seinen Sinn umnebelt und vollständig berauscht von irgend etwas unsäglich Neuern, Lockendem und Verheißungsvollem, das an erste, hoffende Liebessehnsucht gemahnte. Aber als er mit kalten und unsicheren Händen das Buch in der Schublade des Gartentisches verwahrte, war sein glühender Kopf, in dem ein seltsamer Druck, eine beängstigende Spannung herrschte, als könnte irgendetwas darin zerspringen, nicht Eines vollkommenen Gedankens fähig.

Was war dies? fragte er. sich, während er ins Haus ging, die Haupttreppe erstieg und sich Im Eßzimmer zu den Seinen setzte … Was ist mir geschehen? Was habe ich vernommen? Was ist zu mir gesprochen worden, zu mir Thomas Buddenbrook, Ratsherr dieser Stadt, Chef der Getreidefirma Johann Buddenbrook … ? War dies für mich bestimmt? Kann ich es ertragen? Ich weiß nicht, was es war … Ich weiß nur, daß es zu viel, zu viel ist für mein Bürgerhirn …

In diesem Zustande eines schweren, dunklen, trunkenen und gedankenlosen Uberwältigtseins, verblieb er den ganzen Tag. Dann aber kam der Abend, und unfähig seinen Kopf länger auf den Schultern zu  halten, ging er frühzeitig zu Bette. Er schlief drei Stunden lang, tief, unerreichbar tief, wie noch niemals in seinem Leben. Dann wachte er, so jäh, so köstlich erschrocken, wie man einsam erwacht, mit einer keimenden Liebe im Herzen.

Er .wußte sich allein in dem großen Schlafgemach, denn Gerda schlief jetzt in Ida Jungmanns Zimmer, die kürzlich, um näher beim kleinen Johann. zu sein, eines der drei Altan-Zimmer bezogen hatte. Es herrschte dichte Nacht um ihn her, da die Verhänge der beiden hohen Fenster fest geschlossen waren. In tiefer Stille und sacht lastender Schwüle lag er auf dem Rücken und blickte in das Dunkle empor.

Und siehe da: plötzlich war es wie wenn die Finsternis vor seinen Augen zerrisse, wie wenn die samtne Wand der Nacht sich klaffend teilte und eine unermeßlich tiefe, eine ewige Fernsicht von Licht enthüllte … Ich werde leben! sagte Thomas Buddenbrook beinahe laut und fühlte, wie seine Brust dabei vor innerlichem Schluchzen erzitterte. Dies ist es, daß ich leben werde! Es wird leben,…und daß dieses Es nicht ich bin, das ist nur eine Täuschung, das war nur ein Irrtum, den der Tod berichtigen wird. So ist es, so ist es! „

( aus Thomas Mann. Die Buddenbrooks)