Auszug aus Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“
„Gott meint die Welt keineswegs wörtlich; sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er sich aus irgendwelchen Gründen bedienen muß, und natürlich immer unzureichend; wir dürfen ihn nicht beim Wort nehmen, wir selbst müssen die Lösung herausbekommen, die er uns aufgibt[…]; etwas von mathematischen Aufgaben, die keine allgemeine Lösung zulassen, wohl aber Einzellösungen, durch deren Kombination man sich der allgemeinen Lösung nähert.“
„Man hat gewisse Fragen den Menschen aus dem Herzen genommen. Man hat für hochfliegende Gedanken eine Art Geflügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unübersichtlicher und das ist ganz recht so, denn kein Mensch braucht sich bei dieser Ausbreitung mehr vorzuwerfen, daß er sich nicht persönlich um sie kümmern kann.“
„Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigenschaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Unterschieden entsprechen dabei sehr kleine innere.“
„Ich bin nicht fromm. Ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte.“
„Stell dir vor, irgendein Kanzleirat in fabrikneuen Lederhosen sitzt dort, mit grünen Hosenträgern, auf die Grüß Gott gestickt ist: er ver-
tritt den reellen Gehalt des Lebens, der sich auf Urlaub befindet. Dadurch ist das Bewußtsein, das er von seinem Dasein hat, natürlich für den Augenblick verändert. Wenn er die Rinderherde ansieht, so zählt; er nicht, beziffert nicht, schätzt nicht das Lebendgewicht der vor‘ ihm weidenden Tiere, verzeiht seinen Feinden und denkt milde von seiner Familie. Die Herde ist aus einem praktischen sozusagen ein moralischer Gegenstand für ihn geworden. Es kann natürlich auch sein, dass er doch ein wenig schätzt und ziffert und nicht ganz verzeiht, aber dann wird es wenigstens umspielt sein von Waldesrauschen, Baches-murmeln und Sonnenschein. In einem Satz kann man das so sagen: Was sonst den Inhalt seines Lebens bildet, erscheint ihm fern und ei- gentlieh unwichtig.“Es ist eine Ferialstirnmung‘ ergänzte Agathe mechanisch.’Sehr richtig! Und wenn ihm das nichtferiale Dasein darin eigentlich unwichtig vorkommt, so heißt das nur: auf Urlaubsdauer. Das ist also heute die Wahrheit: der Mensch hat zwei Daseins-, Bewußtseins- undDenkzustände und bewahrt sich vor einem tödlichen Gespensterschreck, den ihm das einflößen müßte, auf die Weise, daß er die eine fiir den Urlaub von den anderen hält, für ihre Unterbrechung,,Ruhe oder irgendetwas an ihnen, das er zu kennen glaubt. Mystik dagegen wäre verbunden mit der Absicht auf Dauerferien.“
Robert Musil : Der Mann ohne Eigenschaften
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