Philosophie für Kinder und ein Märchen für Erwachsene

 

 

Zeit und Krankheit

„Und was ist das für eine Krankheit?“-

„Am Anfang merkt man noch nicht viel davon. Man hat eines Tages keine Lust mehr, irgendetwas zu tun. Nichts interessiert einen, man ödet sich. Aber diese Unlust verschwindet nicht wieder. Sondern sie bleibt und nimmt langsam immer mehr zu. Sie wird schlimmer von Woche zu Woche. Man fühlt sich immer missmutiger, immer leerer im Inneren, immer unzufriedener mit sich selbst und der Welt. Dann hört nach und nach sogar dieses Gefühl auf und man fühlt gar nichts mehr. Man wird ganz gleichgültig und grau, die ganze Welt kommt einem fremd vor und geht einen nichts an. Es gibt keinen Zorn mehr und keine Begeisterung, man kann sich nicht mehr freuen und nicht mehr trauern, man verlernt das Lachen und das Weinen. Dann ist es kalt geworden in einem und man kann nichts und niemand mehr lieb haben. Wenn es einmal so weit gekommen ist, dann ist die Krankheit unheilbar. […]“

Dieser Dialog, entnommen aus einer Erzählung über die Zeit und den Umgang mit ihr, ließe sich auch als beeindruckend treffende Beschreibung einer der schlimmsten Geißeln der Moderne verwenden: der Depression. Depressionen sind nicht etwa eine harmlose Verstimmung des Geistes, die sich schon wieder gibt, wenn man sich nur ein wenig zusammenreißen würde: Sie zehren den Menschen auf und führen die Betroffenen an den Abgrund der Sinnlosigkeit angesichts der scheinbaren Beliebigkeit ihres Daseins. Am Ende steht der Verlust jeglicher menschlicher Regungen im Angesicht eines dahinvegetierenden Lebens: Echte Depressionen fühlen sich für die Betroffenen an, als wären sie lebendig begraben. Depressionen, weiß die Etymologie, die Wissenschaft von der Herkunft der Worte, zu berichten, meinen so etwas wie Niederdrücken, Unterdrücken. In ihrer ursprünglichen Bedeutung rühren sie von niedergedrückten Gefühlen, von unaufgearbeiteter Trauer her. Trauer ist von vielfältiger Natur und Herkunft; in der herkömmlichen Vorstellung ist sie mit dem Verlust nahestehender Personen verbunden. Längst sind Depressionen jedoch zu einer Art Volkskrankheit geraten und treten derart gehäuft auf, dass sie sich längst nicht mehr durch die „bloße“ Konfrontation mit dem Tod erklären lassen. Es scheint so, als ob sie zu einer Art Krankheit der Zeit mutiert sind, einer Krankheit unserer ganz besonderen Zeit, die sich nur in dieser unseren Zeit derartig ausbreiten konnte. Deshalb lohnt es sich, unseren Begriff von Zeit zu hinterfragen.

Was bedeutet uns Zeit? Zeit ist Leben, so sagt es einer der Protagonisten des Buches. Lebenszeit. Darin vergeht unser Leben. Wenn wir uns darin nicht mehr identifizieren können, existieren wir streng genommen nicht mehr: Wir sind im wahren Sinn des Wortes Existenz nicht mehr fähig herauszutreten und stattzufinden; wir behaupten nicht mehr den uns eigenen Bezirk des Lebens und sind damit auch nicht länger möglich und wirklich. Wenn wir uns keine Zeit mehr nehmen, dann nimmt sie sich uns, könnte man sagen. Wir brennen aus, sagen manche.[1] Sie beginnt uns mit Haut und Haaren zu fressen, bis wir in ihrem Strudel untergehen. Was Meister Hora in Michael Endes Erzählung Momo mit dieser Beschreibung darstellt ist die Depression als Verlust einer Beziehung der Kranken zu sich selbst, wie sie durch die moderne Atem- und Zeitlosigkeit entsteht; gleichsam als Trauer um jene Person, die sie die längste Zeit ihres Lebens dargestellt hatten.[2]. Es ist die Krankheit unserer Zeit: der Tod der Lebenden; die lebenden Toten im Angesicht der funktionalisierenden Eintönigkeit.

Diese Zeit-Krankheit wird ausgelöst durch gleichsam vergiftete Zeit, wie sie von den sogenannten Grauen Herren erzeugt wird, indem diese einen Ring um das Domizil Meister Horas, des Verwalters der Zeit, ziehen, um jene Zeit, die dieser den Menschen zur Verfügung stellt, zu beeinflussen. Mit ihrer von den Menschen gestohlenen und verbrauchten Zeit in Form der getrockneten und in der Folge von ihnen mittels kleiner Zigarren gerauchten Stunden-Blumen wird diese menschliche Lebenszeit vermischt und so vergiftet bis schließlich alle Menschen geworden sind wie sie: grau, seelenlos und einzig dem Ziel ihrer Organisation verpflichtet. Dadurch drohen die so vergifteten Menschen schließlich in der Depression selbst zu erlöschen.

Jedem Menschen wird eine bestimmte Anzahl dieser Stunden-Blumen als Lebenszeit zugeteilt, über die er frei verfügen kann. Im Laufe der Erzählung ist es den grauen Herren mittels des Systems der Zeit-Sparkasse  gelungen, die Menschen davon zu überzeugen, ihre Zeit für später zu sparen, um sie dann in Ruhe genießen zu können. In Wahrheit aber kommt diese Zeit alleine dem System der Grauen Herren zugute, welche die Stundenblumen der Menschen  stehlen und sich dadurch in die Lage versetzen ihr Dasein zu fristen.[3]

Beschrieben wird hier ein Mechanismus, der strukturell allen systemischen Institutionen zu Grunde liegt und in welchem Menschen Gefahr laufen, das Verhältnis zu sich selbst zu verlieren und zu korrumpieren. Hierunter fallen regelhaft alle Formen der Organisationen von Firmen über Banken, Verbänden, Parlamenten, Religionsgemeinschaften, Vereinen bis hin zum Kleinstunternehmer, der Gefahr läuft sich selbst auszubeuten und sogar NGO’s. Organisationen, die in der Absicht, das Leben zu organisieren und zu vereinfachen, geschaffen werden, unterliegen einer merkwürdigen Dynamik: Angetreten, um im Dienst der Menschheit die Welt und das Leben zu verbessern, absorbieren sie ihre Mitglieder in einer Art von Identitätserzählung und negieren darin stellvertretend die gesamte Menschheit:

System und Vernichtung

Das Selbstbewusstsein als Bewusstsein unserer selbst, der Urgrund unserer Identität, strebt nach Unabhängigkeit und findet diese immer nur in einer Beschäftigung und Spiegelung mit und in der Außenwelt. Man könnte stattdessen auch sagen: sie ist der Grund, warum man Menschen als soziale Wesen bezeichnet. Um Identität zu erreichen, um sich also zu spüren und selbst zu erfahren, sind Menschen darauf angewiesen, sich zu identifizieren; in der Außenwelt wiederzufinden. Die Institution bietet hierzu einen perfekten Ankerpunkt, zumal, wenn sie womöglich unseren Ideen und Idealen entspricht. In ihr vermögen wir anscheinend dieses soziale Wesen auszuleben. Sie ist zudem gegründet im Angesicht einer an sich bedrohlichen und unbeherrschbaren Welt, die uns in allerlei Gestalten übermächtig gegenübersteht: sie soll das Leben vereinfachen und sicherer machen. Und: sie bietet einen Identifikationshintergrund. Sie ist sozusagen eine systemische Person; eine Form von Identität, die eine von Menschen geschaffene Überindividualität darstellt, mit deren Idealen und Zielen sich die Einzelnen zu identifizieren vermögen; ich nenne sie daher vorläufig eine technische Person. Sie stellt damit den Inbegriff von Organisation dar, etwas scheinbar durch und durch Rationales. Ihre eigentliche Ursache aber ist etwas ausgesprochen Irrationales, wie wir gesehen hatten: es ist die Furcht vor der Überwältigung durch die Kräfte der Natur und des Schicksals; zwar durchaus wirklich und damit gleichermaßen wahr aber so gut wie unmöglich einzuschätzen und sich davor abzusichern. Die Institution ist daher in ihrem letzten Grund der verzweifelte Versuch, sich den Gesetzen der Natur und letztlich dem Tod zu entziehen und ihre wahre Grundlage ist die Angst nicht zu sein; unbestimmte, untergründige und letztlich nicht zu begründende[4] Angst im Angesicht der uns bei weitem übersteigenden Erhabenheit und Hintergründigkeit des Universums; Angst also, welche lediglich „rational“ als Furcht vor bestimmten Ereignissen begründet wird in einem naturwissenschaftlichen Gewand. Und so sagt einer der berühmtesten und berüchtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, Martin Heidegger: „Das Wesen der Technik ist selber nichts Technisches.“ Die Technik als scheinbare Ausgeburt der Rationalität erweist sich als ein getriebenes Geschehen eines scheinbar verständigen Verstands, welches in Wahrheit jedoch mit einem Maß an Vernunft ausgestattet ist, welches das Geschehen, das in der Natur waltet, mit keiner noch so kleinen Spitze zu übertreffen vermag; es gleicht in nichts einer Handlung.[5] Schlimmer noch; ihre Auswüchse sind die Ursachen für die enormen Umweltzerstörungen, die beinahe jede erdenkliche naturgemachte Naturkatastrophe übersteigen und die wir daher getrost einen Machbarkeitswahn nennen können. Hier wird im Namen der Rationalität der ungeheure finanzielle, technische und ressourcenfressende Aufwand begründet, welchen es benötigt, um Menschen bspw. auf den Mond zu schießen. Dabei werden gleichzeitig eklatant die Möglichkeiten vernachlässigt, mit denen uns diese Ressourcen dienlich sein könnten, wenn wir sie zur Bewältigung der wirklich großen Herausforderungen unsere Zeit einsetzen würden.[6] Auch hierzu bedürfte es einer Organisation, welche sich freilich dem einzigen Ziel der Menschheit verpflichten müsste im ständigen Gewahrsein, ihrem eigenen Systemischen, dem Systemischen schlechthin also, nicht zu erliegen und sich darin zu korrumpieren.

In der herkömmlichen Identitätserzählung der Organisation negiert sich jedoch das Individuum zugunsten des Kollektivs, es kommt zu Aussagen wie: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, und verpflichtet den Einzelnen von seinen Interessen, der Entwicklung seiner Freiheit, zurückzutreten.[7] Es entsteht, wie bereits dargelegt, eine technische Person, die nun, angetrieben durch ein seltsames Eigenleben, ausgestattet mit einer überwältigenden Machtfülle durch die vielhändige Tätigkeit ihrer Mitglieder, alles daran setzt ihr Überleben und Gedeihen voranzutreiben. Dadurch gerät ihr ursprünglich behauptetes Ziel, die Strukturierung und Verbesserung der Welt aus dem Blick und weicht dem Ziel der Sorge für das eigene Wohlergehen, immer noch kaschiert durch das ursprünglich behauptete und anvisierte Ziel.[8] Dies ist die Geburt einer scheinheiligen paradoxen Lüge. Die Institution frisst ihre Kinder und beginnt an der Welt zu nagen. Ihre Triebfedern sind die Angst und die Gier, entstanden eigentlich aus den Gründen der Liebe und Fürsorge. Interessanterweise sind diese Charaktereigenschaften nun jedoch gleichsam unpersönlich in der technischen Person vereinigt und das bedeutet eine wirkliche, grotesk anmutende Irrationalität, die in Wahrheit nicht einmal mehr den Mächtigen der Institution zugutekommt, da auch sie zu Figuren auf einem Schachbrett mutiert sind; alle werden nun ersetzbar und gezwungen, Regeln und Handlungen im Dienste der Institution zu vollziehen, die sie als Privatperson genauso reglementieren und schädigen können, wie alle anderen . Dieser Zusammenhang wird in einer bedrückenden Art und Weise durch Michael Endes Erzählung „Momo“ durch die Institution der Zeit-Sparkassen in Form der Grauen Herren exemplarisch dargestellt. Auch diese wirken in der Ausübung ihrer Funktion ausgesprochen unpersönlich; sie mutieren zu unpersönlichen, rein technischen Personen und werden im Laufe der Erzählung, wenn die Situation es zu erfordern scheint, vernichtet und ersetzt.

Wende und Kehre

Als ich nun in der Bücherei meines Vertrauens ein Exemplar von „Momo“ abholte[9], um es jetzt als Erwachsener noch einmal zu lesen, musste ich erstaunt feststellen, dass es sich um eine Version für den Schulunterricht handelte. Offensichtlich also gehörte Momo mittlerweile zur Pflichtlektüre. Was mich anfangs freudig überraschte, wich nach und nach einer gewissen Skepsis und verwandelte sich schließlich in einem grauen Schleier . Ich hatte das Buch immer als Inbegriff eines Freiheitswillens empfunden und kann mir schlecht vorstellen, dass eine Interpretation davon oder auch nur eine Inhaltsangabe, welche dem System der Bewertung unterliegen, in irgendeiner Weise dem Buch gerecht wird. Lesen sollte, nein muss und damit darf alleine aus Lust geschehen. Alles was diese „Beförderung“ schließlich erreichen wird, so lautete meine Befürchtung, ist, dass Kinder unter diesen Zwangs-Umständen endlich auch die letzte Lust an dem phantasiebefördernden und zum Denken anregenden Lesen verlieren würden. In diesem finalen Akt, so scheint es mir, wurde das Buch schließlich selbst institutionalisiert und den Regeln des Systems unterworfen. Alles was ihm, dem System der grauen Eintönigkeit gefährlich werden könnte, weil es das Systemische an sich hinterfragt, wird sich einverleibt und der großen Langeweile und Gleichmacherei angepasst. Die Grauen Herren hatten den Verlag gekauft, so könnte man sagen. Die Depression schien gesiegt zu haben.

So fand ich schließlich, von dunklen Gedanken überwältigt, unter Umwegen und Verirrungen meinen Weg in jenes kleine alte Amphitheater, in dem Momo ganz sicher auch heute noch wohnt und traf sie dort an einem lauen Frühsommerabend, als sie wie üblich still und andächtig in den Sternenhimmel hineinsah und dem leisen weißen Rauschen, jener großen weiten Stille[10], die vom Universums ausgeht, lauschte. Wenn wir nur ganz genau hinhören, kann es sich in eine Melodie verwandeln, die so schön ist, dass wir sie nie vergessen werden. Nachdem wir eine Weile der leisen Melodie gelauscht hatten, die man nur hört, wenn man selber ganz still und leise wird und jegliches Denken einstellt, begann ich ihr von meinem Kummer zu erzählen. Ich begann ihr von den unheilvollen Institutionen zu erzählen und dass die Grauen Herren ihr Buch gekauft hätten und dass schließlich alles verloren sei, unwiederbringlich verloren, jammerte ich. Und wie ich mich selbst erzählen hörte und Momo, wie immer nichts dazu sagte, sondern nur zuhörte und mit ihren großen dunklen Augen vertrauensvoll in meine blauen Augen blickte, und ich noch einmal das weiße Rauschen des Universums, die große Stille in mir im Hintergrund hörte, da wurde mir klar, dass alles was ich über die Grauen Herren und ihre Institution wusste, wahr war, aber nicht länger wichtig. Und ich erinnerte mich an Gigi den Geschichtenerzähler und Beppo Straßenkehrer, an Kassiopeia die Schildkröte und Meister Hora, wie sie einst mit Momo um das Erbe der Menschheit gekämpft hatten. Und das ist die Geschichte von Momo, wie ich sie las:

Wahrer Gehorsam

Alles beginnt mit einem kleinen Mädchen in einer viel zu großen Männerjacke, das eines Tages in einem kleinen, unbedeutenden und verfallenden Amphitheater am Rande einer Großstadt auftaucht. Als man es fragt, wo es herkomme, weiß es daraufhin lediglich mit den Schultern zu zucken. In einer Inhaltsangabe der Verfilmung, die ich zugegeben noch nicht gesehen habe, behauptet man, sie sei ein Waisenkind. Es scheint mir typisch für die moderne Unterhaltungsindustrie, dass diese gar nicht auf die Idee kommt, ihren Verlust an Phantasie und Mangel an der Fähigkeit sich zu wundern, zu verbergen versucht. Eine Waise ist gemeinhin bekannt als ein Kind, das seine Eltern verloren hat. Alles was das Buch dagegen zu berichten weiß, ist, dass Momo bereits aus einem sogenannten Waisenhaus geflohen ist. In der Frage ihrer Herkunft scheint sie dagegen selber unschlüssig zu sein und wäre sie von Geburt an dort groß geworden und hätte es nicht anders gekannt, so hätte sie vermutlich nicht den Mut gehabt, die Welt mit ihren eigenen Augen zu sehen. Vielmehr scheint sie die Freiheit schon zuvor gekannt und sich in ihrer Flucht auch dazu bekannt zu haben. Es erscheint also schlüssig, dass sie nicht von klein an in einem Waisenhaus gewesen ist und nur eine kurze Episode ihres Lebens, vielmehr eine sehr kurze, dort verbracht hatte. Wenn dies so ist, müsste sie Eltern gehabt haben. Aber auch von solchen wissen Momo und das Buch nicht zu erzählen. Als sie gefragt wird, wer ihr den Namen gegeben habe, antwortetet sie mit „Ich“, und wann sie geboren sei, dass sie schon immer da gewesen sei. Es scheint so zu sein, als ob Momo selbst aus der Zeit gefallen wäre.

Es ist ihre besondere Begabung, die sie in kurzer Zeit bei den armen Menschen in der Umgebung des Amphitheaters bekannt und beliebt macht und dafür sorgt, dass diese beschließen, sich selbst um die nötigen Lebensmittel für Momo zu kümmern und sie ansonsten weiterhin unbehelligt von den „Notwendigkeiten der modernen Fürsorge“ in dem Amphitheater wohnen zu lassen. Eine ungewöhnliche Entscheidung, wie mir scheint, wenn man bedenkt, wie viele verschiedene Menschen sich in einem gemeinsamen Akt hier einer „vernünftigen“ Lösung verschließen und den Weg des Herzens gehen. Im Ansatz mag sich erinnert werden an den Satz Jesu: „Wo sich zwei oder drei in meinem Namen versammeln, da bin ich mitten unter ihnen.“ Es scheint sich beinahe also um einen Akt der Kommunion zu handeln. Aber ich vergaß mich; die Begabung. Sie besteht darin zuhören zu können.

Das Hören; es hat eine seltsame Qualität.„Reden ist Silber; Schweigen ist Gold“, heißt es in einer Redewendung und gemeint ist damit landläufig die Fähigkeit zur vertraulichen Verschwiegenheit. Womöglich ist hiermit aber noch Weitergehendes bedeutet: In der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg erscheint das Zuhören als in Konflikten vermittelndes Zuhören, bspw. wenn uns eine Freundin oder ein Freund ihren tiefsten Kummer ausschütten. Unser erster Reflex besteht oft darin, ihnen logistische, d.h. technische Ratschläge erteilen zu wollen, da das Problem in einer ersten Schau auf der organisatorischen Ebene der Strategie zu liegen scheint. „Dann sag deinem Freund doch, dass du dich nicht gesehen fühlst“, raten wir dann z.B. und übersehen, dass in aller Regel von den Betroffenen schon alle Spielarten der strategischen Bewältigung durchdacht und durchgespielt worden sind. Fehlgeschlagene Strategie ist eher selten ein ursächlicher Grund für echten Kummer. Was hier also versucht wird, ist in einer Analogie zum Begriff der Krankheit diese mit dem Beseitigen des Symptoms zu bekämpfen, so dass Ursache und Auslöser als verwechselt betrachtet werden dürfen.

Ursache des Kummers ist in aller Regel, dass wir uns in einem Konflikt nicht mit unseren ureigenen Bedürfnissen gesehen fühlen. Dem geht oft voraus, dass wir selber uns nicht mit diesen Bedürfnissen gesehen hatten. Deshalb hatten wir nicht für uns einstehen können und fühlten uns von unserem Gegenüber überfahren. Im Akt des Zuhörens wird uns daher erlaubt, endlich auch uns selber zuhören zu dürfen, ohne durch intelligente und wohlmeinende Ratschläge abgelenkt zu werden. So gesehen erwächst aus der Missachtung und der folgenden Trauer oder Wut erst die Möglichkeit, eigene Bedürfnisse zu erkennen und für sie einzustehen; es kann also auch als,- im ersten Moment freilich reichlich sperriges -, Geschenk wahrgenommen werden. Das Hören ist ebenso das Konzept der Psychoanalyse. Es wird sich auf eine Couch mit Blickrichtung weg vom Therapeuten gelegt und dieser hört in der Regel lediglich zu und stellt nur in Ausnahmen womöglich wegweisende Fragen. Es ist schlicht und ergreifend wohltuend, wenn uns jemand einfach einmal nur zuhört und vielleicht gelingt es uns mit dieser Erfahrung im Rücken ja, uns eines Tages einmal selbst zuzuhören. Meister Eckart, vielleicht der bedeutendste Mystiker des Abendlandes,- welcher mit seinen Thesen eine derartige Subversivität an den Tag legte, dass er für die Mächtigen zu einer echten Gefahr wurde, so dass er schließlich der ranghöchste Kirchenlehrer war, der jemals der Ketzerei angeklagt und letztlich auch verurteilt wurde -, nennt es in seinen „Reden der Unterweisung“[11] einen „wahren Gehorsam“[12].

Die Wahrheit der Fiktion

Auch die Kinder verstehen das kleine Amphitheater mehr und mehr als den neuen Mittelpunkt ihrer nun rasch größer werdenden Welt. Denn was sich in ihrem Spiel, in dem sie auf experimentelle Weise die Welt nachahmen und darin neu interpretieren, in der Anwesenheit Momos schnell zeigen wird, ist, dass die Weise des Zuhörens auch die Phantasie, d.h. die Wirklichkeit des Spiels enorm positiv anzuregen und zu beeinflussen vermag. Die Ängste der Kinder, stellvertretend dargestellt durch ein Mädchen, welches Angst vor Gewitter hat, werden im Spiel auf die Probe gestellt und durch das Abenteuer bewältigt, so dass das Gewitter sich in der Phantasie in einen Sturm auf hoher See verwandelt. Verursacht durch einen wandernden Wirbelsturm, stellt dieser in der Wahrheit des Spiels einen Riesenkraken dar, mit dem die Kinderschar auf ihrem Forschungsschiff ringt und diesen schließlich besiegt. Während dieser spielerischen Bewältigung gelingt es dem Mädchen nicht nur einfach ihre Angst vor dem Gewitter zu bewältigen, sie vergisst diese schließlich und erwacht wie aus einem schönen Traum am Ende des Spiels, pitschnass und überglücklich.[13]

Aber nicht nur die Kinder profitieren von diesem Schub an Phantasie, der von Momo auszugehen scheint. Auch Gigi Fremdenführer, der von Gelegenheitsjobs lebt, von denen einer eben den des Fremdenführers darstellt, in welchem er seinen Kunden ausnahmslos hanebüchene Geschichten über die besuchten Sehenswürdigkeiten erzählt, die diese meist gefesselt und gebannt unter tiefstem Erstaunen zur Kenntnis und eigenen Bereicherung nehmen[14], scheint durch die Anwesenheit Momos in seiner Phantasie geradezu beflügelt und erfindet in der Folge immer neue und fesselnde Geschichten, von denen keine der anderen auch nur ähnelt. Auch er beginnt sich selbst also zuzuhören, „ebenso gespannt […], denn er hatte keine Ahnung, wohin ihn seine [Ph]antasie führen würde.“

Womöglich ohne es zu ahnen, nähert er sich hierin dem Prinzip von Wahrheit und Wirklichkeit in beeindruckender Weise an. Während er zwei ältere amerikanische Touristinnen durch die Ruinen des Amphitheaters führt, erzählt er ihnen die Geschichte des Herrschers, dem die Welt, wie sie war, nicht mehr gefiel und der daraufhin beschloss, sich eine neue Welt zu bauen. Stück für Stück ließ er so die alte Welt abtragen, um seine neue Welt daraus aufzubauen, bis schließlich die neue Welt in ihrer Gänze aus den Bestandteilen der alten Welt bestand und diese somit komplett und wie gewünscht verschwunden war. Als der Herrscher erkennen musste, dass schließlich aber alles beim Alten geblieben war, sei er enttäuscht davon gegangen und niemand habe jemals mehr etwas von ihm gehört. Das einzige, was schließlich von der alten Welt noch übriggeblieben sei, so schließt Gigi seine Erzählung mit Blick auf die Ruine das kleinen Amphitheaters, sei schließlich jene ringartige Vertiefung gewesen, die, wenn man sie sich umgekehrt vorstellt, in Wahrheit den Sockel der neuen Welt, ruhend auf der alten Welt gebildet hatte. Seine Erzählung verursacht bei den beiden älteren Damen einen derartigen Wirklichkeitsschub, dass diese entsetzt und erschrocken den Schauplatz gleichsam real gewordener Phantasie verlassen, ohne ihm noch ein Trinkgeld zu überlassen.

Diese Geschichte objektiviert zweierlei in einer Einheit: sie zeigt einerseits, dass die Welt nicht einfach verändert werden kann; sie wird solange die gleiche Welt bleiben, wie wir die gleiche Person bleiben; solange wir uns und unsere Sicht auf die Welt nicht zu verändern vermögen. In gewisser Weise spiegelt sich hier die Phantasielosigkeit unserer modernen Welt, in der Materie und Energie zwar ihre Formen wandeln, die Menschen aber keinesfalls glücklicher zu werden scheinen, sondern eher das Gegenteil eintritt. Je entschlossener aber auch verzweifelter wir uns bemühen die Welt zu wandeln, ohne uns dabei um unser wahrhaft in uns ruhendes Potential zu sorgen, umso mehr scheint die Depression um sich zu greifen. Die andere Offensichtlichkeit, die zu Tage tritt, ist das Schreckgespenst vor dem die beiden Damen fliehen. Indem Gigi ihre Wirklichkeit durch das Eintauchen in seine Geschichte zu verändern beginnt, beginnt er gleichzeitig, wahrscheinlich ohne es zu wollen, ihre Wahrheit zu bestimmen, der sie sich letztlich durch Flucht zu entziehen versuchen. Der Umstand, vor dem sie letztlich fliehen, ist die Tatsache, dass die Welt, auf der sie zu stehen meinten, gar nicht existiert. Dies ist dann jedoch keine bloß fiktive Geschichte mehr, sondern eine Metapher, die der Wahrheit näherkommt, als alles was sie bisher gewagt hatten selbst zu denken. Es zeigt sich, dass noch nicht Alle für die Annäherung an die Wirklichkeit im Gewand der Fiktion bereit sind, dass nicht Alle es begrüßen, nicht für Alle gilt, „als ob jenes nur gespielte Leben auf geheimnisvolle Weise wirklicher wäre als ihr eigenes, alltägliches. Und sie liebten es, auf diese andere Wirklichkeit hinzuhören.“

Ein Schreckgespenst als eine Erkenntnis

Darin verbirgt sich ein tief blickenlassendes Moment der Schizophrenie. Die Welt der Spiegelung, repräsentiert bspw. durch die Künste oder auch die Psychoanalyse, offenbart uns, dass es zwei Welten zu geben scheint, zwischen denen wir uns hin- und her bewegen; die Welt des Alltags und der Funktionalität und jene der Kunst, der Selbstbespiegelung oder auch des Urlaubs, der Ferial-Stimmung, wie es Robert Musil in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ nennt, in denen wir uns den lebensentscheidenden Fragen eines gelingenden Lebens stellen dürfen. Es suggeriert uns so die Existenz zweier unterschiedlicher Bewusstseinszustände, zwischen denen wir uns entscheiden müssten, spaltet das Leben in zwei Teile und müsste uns wie den beiden Damen in Gigis Geschichte einen Schrecken einjagen, dort wo wir erkennen, dass wir in einer gleichsam falschen Welt leben und der Weg zur „richtigen“ Welt bloß in den seltenen Lücken, welche die alltägliche Wirklichkeit uns zu lassen scheint, weit und offen bleibt. In dieser Wirklichkeit erkennen wir in womöglich seltenen Momenten, dass Liebe und Selbsterkenntnis zwei Seiten einer Medaille darstellen, die essentiell für das Überleben der Einzelnen sowie der gesamten Spezies sind. Sie entstehen in einem Blick auf die Welt, der sich bewusst ist, dass die Art und Weise seines Betrachtens die Welt als entscheidende Komponente selbst erschafft.[15] Gigi nähert sich auf diese Weise des Selbst-Zuhörens jener in Wahrheit „einen“ Wirklichkeit an, bleibt als Figur jedoch besinnungslos seinen Träumereien von Ruhm und Reichtum ausgeliefert. Er beginnt in der Folge, als Momo für einige Zeit bei Meister Hora vor den Grauen Herren untertaucht, deren Verlockungen von Berühmtheit zu unterliegen und verdingt sich als professioneller aber in seiner Originalität verblassender Geschichtenerzähler an die ruhmreiche und berüchtigte Welt der Medien. Ich will es mit den Worten einer guten Freundin sagen, als sie neulich auf meiner Liege während einer Behandlung folgende Erkenntnis hatte: „Ich beginne zu verstehen, dass ich mein Leben nur träume, anstatt meine Träume zu leben.“ Dabei verrät er, um die künstlich gesteigerte Nachfrage nach seinen Geschichten zu befriedigen, auch die „geheimen“ Geschichten als das Geheimnis und die Intimität einer Freundschaft, die er ursprünglich nur für Momo und sich erzählt hatte und trägt so letztlich zur systemischen Betäubung der ausgebeuteten Zeit-Sparer bei.

Momos anderer Freund, Beppo Straßenkehrer, schlägt den entgegengesetzten Weg ein. Auch er wird hierbei vorerst nicht glücklich. Er ist, wie sein Name verrät ein einfacher Straßenkehrer, der sich zum Denken und Antworten so viel Zeit lässt, dass seine Antworten für weniger aufmerksame Zuhörer zusammenhanglos wirken, da sie in der Regel reichlich zeitversetzt erfolgen. Viele Menschen halten ihn deshalb für sonderbar und unzurechnungsfähig. Es ist daher vielleicht zuerst die Weise seines Straßenkehrens, die aufhorchen lässt. Beppo liebt seinen Beruf, den die meisten Menschen wohl für eintönig halten würden. Dabei geht er immer nach dem gleichen Muster vor; ein Schritt, ein Atemzug, ein Besenstrich. Seine Arbeit verrichtet er gerne und gründlich. Dabei vermeidet er es, die ganze Straße ihrer Länge nach in den Blick zu nehmen, sondern achtet jeweils nur auf den direkt vor ihm liegenden Abschnitt, der in diesem Moment seiner Aufmerksamkeit bedarf. Diese Vorgehensweise erinnert stark an die eines Zen-Meisters und gleicht einer Lebensanschauung, in welcher das Schreckgespenst der sich scheinbar ausschließenden Bewusstseinszustände aufgegeben wird; sie lenkt den Fokus auf die Kraft der Gegenwart, wie sie von verschiedenen Mystikern, unter anderem auch von Eckart Tolle behauptet wird. Beppo sagt hierzu bezeichnenderweise: „Die Straße wird zu lang, wenn man sie als Weg begreift – es gibt nur das Gehen als jeden einzelnen Schritt.“ Streng genommen gibt es also nur die Gegenwart als gegenwärtige Wirklichkeit, die unsere ganze Aufmerksamkeit fordert. Die Zukunft bleibt ungewiss; unsere Planungen mögen in der ihr innewohnenden Gegenwärtigkeit sinnvoll sein, vielleicht auch nur, um zu bemerken, wie es nicht geht und was wir nicht wollen, als eigentliche Zukunft genommen taugen sie jedoch selten, da zu oft geschieht, was wir nicht ahnten. Die Vergangenheit dagegen hat nur als unsere gegenwärtige Geschichte Bestand, die wir in dieser Gegenwart umschreiben und als Geschichte stets verbessern dürfen.

Über die Stille auf dem Grund der Welt

Beppo wird im Verlauf der Geschichte, während Momo Zuflucht bei Meister Hora nimmt, auf seiner Suche nach ihr von den Grauen Herren getäuscht, indem diese behaupten, sie in ihrer Gewalt zu haben und er sie bloß auslösen könne, indem er eine horrende Summe an Zeit einspare. So beginnt er die Art und Weise, seine Arbeit zu erledigen, der mittlerweile üblichen anzupassen und arbeitet gehetzt Tag und Nacht mit so wenigen Pausen, wie sein geschundener Körper es ihm erlaubt. Auch er erliegt letztlich der Macht des Systemischen und zeigt darin doch die Weise eines selbstbezüglichen Umgangs. Auch liefert er für das Verständnis der Hintergründe der Erzählung einen wichtigen, womöglich den entscheidenden Hinweis. Als er eines Tages Momo besucht, wirkt er noch nachdenklicher und versunkener als sonst. Er spricht davon, dass mittags, wenn in der Hitze alles schläft, die Welt manchmal durchsichtig werde wie ein Fluss und auf deren Grund gesehen werden könne. Dort lägen andere Zeiten. Merkwürdig, kryptisch, ja denkwürdig waren mir diese Zeilen bei jedem erneuten Lesen vorgekommen, die er zudem einleitet mit dem Satz: „ich habe uns wiedererkannt.“ Ich war ratlos. Und auch Beppo schien ratlos angesichts seiner eigenen Worte zu werden und fügt in einem anderen Ton hinzu, dass er an der Stadtmauer zum Kehren gewesen sei und dort fünf andersfarbige Steine in der Form eines T gesehen und wiedererkannt habe. Es sei in solchen anderen Zeiten geschehen, in denen Viele an der Mauer gearbeitet hätten aber zwei hätten diese Steine als Zeichen hinein gemauert. Schließlich fügt er an, und dies geschieht wiederum in einem anderen, dritten und beinahe trotzigen Tonfall, dass es Momo und er, in anderer Gestalt, gewesen seien. Und schließt, wie er beginnt, mit den Worten: „Ich habe uns wiedererkannt.“

Kein Wunder, dass die Leute ihn für seltsam halten. Zumal im Angesicht wechselnder Tonarten, als sprächen hier unterschiedliche Anteile. Und wie genau soll das geschehen, sich auf dem Grund der Zeiten wiederzuerkennen? Ich versuche nur eine Interpretation: Wirklich ratlos hatte mich die t-artige Steinanordnung in der Mauer hinterlassen. T, so einigte ich mich schließlich, weist auf das internationale Zeichen für die Zeit und angesichts der Thematik des Buches war dies keine ganz große Überraschung; wofür aber stand die Mauer, genauer die Stadtmauer? Ich versuchte es mit der alten Stadt, die das Fundament mancher modernen Städte bildet, wie es bspw. in besonderem Maße in Rom der Fall ist und erinnerte mich des Anfangs der Geschichte, wo es über die alten Städte heißt: „Im geborstenen Gemäuer singen nun die Zikaden ihr eintöniges Lied, das sich anhört, als ob die Erde im Schlaf atmet.“ Die Erde also schläft in den Gemäuern der alten Stadt und mit ihr womöglich die Zeit, die „anderen Zeiten“ auf dem Grund der Welt, als ob sie uns heute nicht wirklich genug werden könnte, als ob sie in ihrer wahren Gestalt gleichsam angehalten wäre für uns und paradoxerweise deshalb so raste, weil sie uns so knapp geworden ist. Andererseits stehen die Stadtmauern auch für einen inneren Bezirk, das Herz der Zivilisation, wenn man so will, darin womöglich entscheidende Menschheits-Entwicklung stattfinden kann. In der mystischen Bildersprache der ersten Zivilisationen, wie jener der Ägypter, stehen sie deshalb auch noch stellvertretend für den inneren Bezirk der Persönlichkeit, vielleicht auch jenes Selbst, das manche als eine Seele bezeichnen. Hierin, in den geschützten Bezirk der selbstgeschaffenen Seele, in den, wie Meister Eckart es sagt, „selbst Gott nicht hineinzublicken vermag“[16], in die Stadtmauern, darf sich das gekränkte Ich in Zeiten der Verletzung zurückziehen, um seine Wunden zu pflegen und sich nicht erneuten Kränkungen aussetzen zu müssen. Vor allem aber darf es hier eine ganz eigene Entwicklung der Zivilisation vorantreiben; die Vollendung der Seele, die sich hier am Grund der Zeit, in der Beschäftigung und Liebe zu sich selbst wiedererkennen darf.

Die rasende Zeit also, und der innere Bezirk der Seele; sind das die Schlüssel zur Interpretation? Wiederholt sich darin, was am Anfang der Geschichte festgestellt wurde; dass der moderne Umgang mit der Zeit, die moderne Zeitlosigkeit, die Ursache für die Krankheit der Seele bedeutet? Und was ist, wenn wir umgekehrt auf den Grund der Zeit und der Seele, auf den Grund der Welt blicken? Wäre das überhaupt gut? Würden wir uns darin wiedererkennen? Schließlich scheint es den Verwirrten, den Halb-Verrückten, Sonderbaren vorbehalten, für einen Moment, in der Hitze des Mittags, während der Rest der Menschheit vor Erschöpfung friedlich döst, auf das Treiben der Satyrn und anderer Fabelgestalten auf dem Grund der Welt aufmerksam zu werden, wenn die Welt in der flirrenden Hitze, unter dem eintönigen Zirpen der Zikaden für die Zeitspanne eines Augenzwinkerns ihr Antlitz ändert und wirklicher als bloß wahr zu werden scheint. Wir sehen in jenem Moment als Momo durch Meister Hora ihre ganz eigene Stundenblume offenbart wird, dass diese von unbeschreiblicher Schönheit und Dynamik ist und dass es ihr vorkommt, als stürbe sie selbst, als diese verwelkt. Freilich kommt noch eine und danach eine weitere usw. Und dennoch ist es der Verlust dieser jeweils einen und dann jeder weiteren Stundenblume, die ihr schier das Herz zerreißen. „Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen“, so schreibt es Ende in das Stammbuch der Menschheit und genauer: „Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Leute davon sparten, desto weniger hatten sie.“ Hier also, im Ungefähren der dösigen Mittagshitze, in der Stille der Zeit scheint sich Bedeutendes abzuspielen; vermögen wir uns der Schönheit und Ursprünglichkeit zu erinnern, die das Leben der frühen Menschen in der Kraft der Gegenwart, in der Verausgabung von Zeit gehabt haben darf. Hier widmet sich der Mensch seiner eigenen Werdung, wie es die „Edda“ der Germanen schon zu singen wusste: Ich weiß, dass ich hing/ Am windigen Baum,/ Neun Nächte lang,/ Mit dem Speer verwundet,/ Geweiht dem Odin,/ Ich selbst mir selbst,/ An jenem Baum, da jedem fremd,/Aus welcher Wurzel er wächst. Und auch genau hier wird uns modernen Menschen der Verlust unserer Anbindung an die natürlichen Kräfte gewahr, welche uns zu uns selbst führen wollen, denn „[a]m allerwenigsten konnten sie die Stille ertragen. Denn in der Stille überfiel sie Angst, weil sie ahnten, was in Wirklichkeit mit ihrem Leben geschah.“

Schöpfung am Rande der Zeit

Es ist schließlich Kassiopeia, als Schildkröte ein eher langsames Tier, die Dynamik in die Geschichte hineinträgt. Der Name Kassiopeia ist der griechischen Mythologie entlehnt und scheint damit in besagte Gründe der Moderne zu verweisen, welchen sie ihre heutige Struktur zu verdanken hat, ohne jedoch schon von deren Kraftlosig- und Eintönigkeit befallen zu sein. Kassiopeia wird Momo von Meister Hora geschickt, um sie vor den Grauen Herren zu ihm in Sicherheit zu bringen. Dabei nimmt sie einen verschlungenen Weg über Vorgärten und durch Keller hindurch, um die große Stadt zu durchqueren. Auf diese Weise gelingt es ihr mit Momo zusammen den Grauen Herren aus dem Weg zu gehen, die Momo fürchten, da diese durch ihre besondere Weise des Zuhörens in der Lage ist, die Wahrheit, welche auf dem Grund jedes Wesens liegt, hervorzulocken. Es ist im Fall besagter Institution ironischerweise die Lüge. Kassiopeias Fähigkeit, für genau eine halbe Stunde die Zukunft zu wissen, verrät ihr, dass sie auf diesem Weg keinem Grauen Herren begegnen werden. Später werden ihr diese Fähigkeit und das Vertrauen darin beinahe zum Verhängnis werden; ein Hinweis darauf, dass auch die geschulteste Intuition Gefahr läuft, der Routine zu erliegen. Hier jedoch gelingt es ihr mit dieser Gabe Momo unbeschadet in die Obhut Meister Horas zu führen. Auf dem Weg dorthin, bereits am Rande der Zeit, passieren sie ein merkwürdiges Denkmal in Ei-Form. Das Ei, so wissen es vielfältige Schöpfungsmythen zu erzählen, steht für das Mysterium der Schöpfung, in welchem der Grund für die Ursache des Lebens verschleiert bleibt, da die Frage nach dem Ursprung des Eis nicht beantwortet werden kann.[17]

Hier am Rande der Zeit, am Übergang von der verbrauchten zur zugeteilten, geschöpften Zeit, dem Reich Meister Horas, drehen sich die Verhältnisse von Raum und Zeit, und Momo und Kassiopeia werden auf einmal umso schneller, je mehr Zeit sie sich in ihrer Schildkröten-Geschwindigkeit lassen, um den Raum hinter sich zu bringen. Schließlich, in der Niemals-Gasse, unmittelbar vor Meister Horas Haus, muss Momo sogar rückwärts laufen, um noch vorwärts zu kommen und erlebt ihr gegenwärtiges Leben rückwärts. Die alte chinesische Kultur wusste zu berichten, dass wer es eilig habe, doch einen Umweg machen solle. Im Reich der zugeteilten Zeit also, dort wo die Schöpfung der Zeit, Kreativität selbst entsteht, kehren sich die Zeitverhältnisse um. Ei und Huhn beginnen einander ähnlich zu werden, und wer sich wie Beppo es beim Straßenkehren vermag, sich selbst darin zu versenken und darin aufzugehen, dem beginnen Raum und Zeit zu einer Einheit zu verschmelzen. Wir können sie jetzt ein Leben nennen und sie sorgt dafür, dass das Werk, welches wir aus einer tiefen untergründigen Verbundenheit und Liebe zur Welt begonnen hatten, vollbracht wird. Diese Liebe ist uns als eine Pflicht um unserer selbst willen aufgegeben worden und darf darin zur Freiheit werden.

„Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren wie die Farben des Regenbogens für den Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben. Aber es gibt leider blinde und taube Herzen, die nichts wahrnehmen, obwohl sie schlagen“, lässt Michael Ende seinen Meister Hora, den Verwalter der Zeit zu Momo sprechen. „Und wenn mein Herz aufhört zu schlagen“, fragt ihn Momo daraufhin. „Dann“, erwidert ihr Meister Hora, „hört auch die Zeit für dich auf, mein Kind. Man könnte auch sagen, du selbst bist es, die durch die Zeit zurückgeht, durch alle deine Tage und Nächte, Monate und Jahre. Du wanderst durch dein Leben zurück, bis du zu dem großen runden Silbertor kommst, durch das du einst hereinkamst. Dort gehst du wieder hinaus.“-„Und was ist auf der anderen Seite?“-„Dann bist du dort wo die Musik herkommt, die du manchmal schon ganz leise gehört hast. Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin. […] Aber das kannst du wohl nicht verstehen.“-„Doch“, antwortet Momo leise aber bestimmt, „ich glaube schon.“ Sie erinnert sich ihres Wegs durch die Niemals-Gasse, in der sie alles rückwärts erlebt hatte und fragt ihn: „Bist du der Tod?“ Meister Hora lächelt und schweigt eine Weile, bevor er antwortet: „Wenn die Menschen wüssten, was der Tod ist, dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm. Und wenn sie keine Angst mehr vor ihm hätten, dann könnte ihnen niemand mehr die Zeit stehlen.“

[1] Der Begriff des Burn-Out offenbart das Verräterische der Sprache. Wir gleichen uns darin einem atomaren Brennstab an, der ausgebrannt und nun nutzlos geworden ist, schlimmer noch; er stellt eine toxische Altlast, eine Art menschlichen Sondermüll  für seine Umgebung dar. Dies ist die Weise, wie die moderne Art der Bewertung und Funktionalisierung aller Lebensbereiche mit ihren Opfer verfährt.

[2] Es gibt sicherlich auch Menschen, die noch nie die Möglichkeit  hatten, als eigenständiges, denkendes und fühlendes Wesen zu existieren, d.h. sich möglich zu sein, weil sie vom Anfang ihres Lebens an auf diese Weise negiert worden sind.

[3] In gewisser Weise erinnert diese Vorgehensweise an das System der Rente: Es wird vermeintlich Zeit in Form von Geld angespart, um in der Zukunft ein möglichst sorgenfreies Leben führen zu können. Dass insbesondere körperlich stark belastete Berufsgruppen hiervon selten und zu wenig profitieren, da sie oft vor der Zeit sterben, wird jedoch kaum beachtet.

 

[4] Wir haben v.a. deshalb  Angst vor dem Tod, weil er uns ein Nicht-Sein bedeutet. Die entscheidende Frage ist, warum wir dann keine Angst vor dem Nicht-Sein haben, welches wir vor unserer Geburt waren. Die Antworten darauf lauten Zeiterfahrung und Bewusstsein. Die Vergangenheit als die Zeit vor unserer Geburt  zeigt, dass es keinen Grund gibt, sich vor diesem Nicht-Sein zu fürchten, die Zukunft als der verständige Verstand ,-den ich nun  einen Quatschkopf nennen will -,will uns dennoch einreden, dass es etwas zu befürchten gebe, nämlich jenes Bewusstsein, welches uns erst in die Lage versetzt hatte, uns als Mensch zu spüren, zu verlieren. Wir haben untergründig begonnen das Leben als jenes scheinbar vereinzelte Bewusstsein zu lieben. Daran ist nichts verwerflich. Wir dürfen uns jedoch daran erinnern, dass Bewusstsein und Kommunikation keine Systeme der Vereinzelung sind; weder eine individuelle Leistung noch ein Besitz sind, -wenngleich es Mühe und Arbeit erfordert, ihnen gerecht zu werden-, sondern im Gegenteil einem universellen und damit gleichsam unvergänglichen Charakter unterliegen. Sie sind ein integraler und unveränderlicher Bestandteil, ich möchte sogar sagen, der Bestandteil des Universums.

[5] Die Handlung unterscheidet sich von dem Geschehen im menschlichen Kontext dadurch, dass sich der Mensch nicht mehr als ein reines Naturwesen wahrnimmt, sondern einen Freiheitsaspekt im Sinne Kants an sich erkennt, der ihn befähigt im Sinne der Menschheit und Menschlichkeit eine gleichsam überindividuelle Handlung zu vollziehen, also im landläufigen Sinn moralisch, im eigentlich Sinn jedoch ethisch zu handeln. Geschehen heißt demnach im Gefolge der Gier: „Ich will, weil ich es kann!“ Handlung in einem freiheitlichen Sinn bedeutet: „Ich will was ich soll.“ Kant sagt es ungefähr so: „Handle stets so, dass die Maxime deiner Handlung zu einem Gesetz werden könnte.“

[6] Wir können in einer anderen, zweiten Tonart also getrost sagen, dass die Menschheit hier als Ganzes, d.h. die Menschlichkeit auf den Mond geschossen wird.

[7] An dieser Stelle sei auf den „Gesellschaftsvertrag“ von Rousseau verwiesen, der dieses Prinzip meiner Meinung nach in seine vielleicht einzig legitime Form überführt.

[8] Wir erleben das schon lange im Mantra der wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Seit ich denken kann, erinnere ich mich der Ermahnung der wirtschaftsfreundlichen Parteien, dass es zuerst der Wirtschaft gut gehen müsse und diese dann in der Folge quasi automatisch dafür sorge, dass es den ihr dienenden Menschen gut gehe. Das Ergebnis ist eine zunehmende Monopolstellung übermächtig werdender Konzerne und eine dramatisch tiefer werdende Kluft zwischen arm und reich sogar innerhalb der reichsten Industrienationen der Welt sowie eine dramatisch voranschreitende Umweltzerstörung. Erst langsam beginnt es noch wenigen von ihnen zu dämmern, dass Umweltschutz nicht dazu dient, die Umwelt zu erhalten. Im Maß der Natur ist die Zeitspanne, die es braucht, um sich von den Zerstörungen der Menschheit zu erholen, eine lächerlich geringe Summe an Zeit. Umweltschutz ist daher vielmehr Menschenschutz und ich fürchte oft, dass es hierbei nicht etwa 5 vor 12 ist, sondern mir scheint es manchmal eher 12 nach 5 zu sein.

[9] Zu meiner Überraschung kann man es dort genauso bestellen wie und bezahlt dort nicht mehr als bei Amazon.

[10] In der Biodynamik arbeitet die Köper-Geist-Seele-Einheit mit genau dieser dynamischen Stille, -ein Begriff, der durch die osteopathische Schule geprägt wurde-, daran, sich mit der Gesundheit zu verbinden und zu heilen. Auch hier hört der Therapeut genau zu; je genauer, umso besser für den Genesungsprozess.

[11] Meister Eckart: Deutsche Predigten und Traktate. Diogenes, 1979.

[12] Die Begrifflichkeit des „wahren Gehorsams“, eine der Kardinalstugenden der evangelischen Räte, wird von ihm nicht wie dort als Gehorsam gegenüber der eigenen Glaubensgemeinschaft und den dort vermittelten Inhalten und Dogmen verstanden, sondern wird als eher unbezügliche notwendige Voraussetzung eines Werkes, am ehesten vielleicht als Gehorsam gegenüber dem Selbst, verstanden. An dieser Stelle scheint eine Begriffsklärung angebracht: Meint der Begriff des Ich am ehesten das, was wir unter dem Ego verstehen, so scheint das Selbst auf eine Ebene im Individuum zu deuten, die alles andere als individuell zu verstehen ist. Zwar scheint der Begriff des Selbst auf eine Art der Mitte zu deuten, wenn bspw. gesagt wird, man habe sich in einer Meditation ganz bei sich selbst gefunden, doch ist damit vielleicht vielmehr gemeint, man habe auf sich selbst gehört und verweist in diesem Zusammenhang auf das, was man den allgemeinmenschlichen Geist, jenen Geist also, der Menschheit erst zur Kommunikation befähigt, nennen könnte. Demgegenüber steht jene Begrifflichkeit des Gehorsams, wie er von der Kirche gefordert wird und der mit Ausschluss bedroht wird, wenn ihm zuwidergehandelt wird. Gehorsam ist somit in der Regel in unserer Wahrnehmung negativ konnotiert, in diesem mystischen Kontext meint er jedoch eine Qualität der Aktivität, die eine Wirksamkeit zur Folge hat, der, so könnte man sagen, selbst Gott gezwungen ist zu folgen, da auch er in diesen Gehorsam gezwungen ist. Gott zeigt sich also in unserer Wahrnehmung als Bestandteil des Selbst, vielleicht als der einzige Bestandteil des Selbst, so dass Gehorsam als „das vollkommene Aufgeben des Deinen“ bezeichnet werden könnte. Eine Form des Willens wird benötigt, um den Willen aufzugeben. Ein Paradoxon, das eine Aktivität bedeutet, die nicht mehr vom Ich ausgeht, sondern ein Hören bedeutet, so dass Aktivität und Passivität zusammenfallen. Dies wäre im Sinne Kants mit einer Aktivität aus Freiheit gleichzusetzen, die eigener Art ist und auf eine Form der Entäußerung hinausläuft, die als Synonym für den gemeinhin abwertend gebrauchten Begriff der Selbstaufgabe stehen kann. Entäußerung bezieht sich auf das Maß des aus sich Herausgehens, indem ein gleichzeitiges Eingehen Gottes erfolgt. Es meint eine Denkeinstellung, in der das Ich über das Denken erfasst wird, also eine Definition stattfindet, die jedoch wieder verlassen werden soll. Hierbei handelt es sich um einen Reflexionsvorgang, eben keine Depersonalisation, so dass dementsprechend auch keine Definition Gottes gegeben wird, sondern ein „unterschiedsloses Sein“ angesprochen wird, die Eckhart als ein „Fünklein in uns“ bezeichnet, in unserer Wahrnehmung vielleicht aber eher einer Naturgewalt gleicht. Dieser Versuch, die Gottesebenbildlichkeit sprachlich zu fassen zeigt auch zugleich die Grenzen der sprachlichen Möglichkeiten auf und die angesprochene Unverfügbarkeit dieses Gottesbegriffs; es handelt sich um eine gleichsam „negative Theologie“. Gehorsam erweist sich als ein unbezüglicher Begriff, weder mir noch Gott gegenüber und deutet auf eine negative Erkenntnis: Das Selbst ist ein nicht Selbstgegebenes, wobei das Gegebene als eine Aufgabe im doppelten Sinn gewertet werden kann, als Auftrag und als Aufgabe. Diese Selbstaufgabe geschieht allerdings nicht ins Leere hinein, sondern ist Bestandteil jener negativen Theologie, welche die Richtung zu bestimmen eben wegen ihrer, man könnte sagen, Ausschlussbegrifflichkeit, nahezu unmöglich macht. Setzt man sich mit dem Begriff der „Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins“ als eine grundsätzliche Kränkung, die dem Menschsein unterliegt, auseinander, wie ich sie bereits unter dem Reiter Coaching beschrieben habe, wird auch deutlich, woher der Gottesbegriff stammt: es ist die Vorstellung eines notwendigen selbständigen Selbstbewusstseins.

[13] Wer, wie ich, unter Höhenangst leidet, mag es einmal selbst ausprobieren. Als ich das erste Mal in einen Klettergarten ging, hate ich einen Höllen-Respekt. Im Laufe der spielerischen Bewältigung der mir gestellten Aufgaben, begann ich geschickter und selbstbewusster zu werden, so dass mir schließlich ein Mit-Kletterer nicht mehr glaubte, unter dieser Furcht zu leiden. Ich habe heute immer noch Höhenangst aber mit jedem Besuch in einem Klettergarten hatten sich die Grenzen nach oben verschoben und mit jedem Flug gelang es mir besser mit meiner Angst zu leben, so dass ich heute zu jeder Zeit und nur mit einem leichten mulmigen Gefühl aber einer umso größer gewordenen Neugier während des Flugs und auch der Landung aus dem Fenster blicken kann.

[14] Die Analogien zum „wahren Leben“, wie sie in Metaphern, Theaterstücken, Kunstwerken u.Ä., sprich in der Fiktion zum Ausdruck kommen, regen durch ihre Anschaulichkeit in der Regel zu einer Reflexion der „wahren Welt“ an, ohne durch deren existentielle Nöte geprägt zu sein und ermöglichen so eine dennoch ergreifende aber auch gleichzeitig distanzierte und daher umso eindrücklichere Spiegelung der wahren Verhältnisse ; sie bilden die Realität als „Wahrheit der Fiktion“ ab, wie es schon unzählige Kunsttheorien von Aristoteles über Friedrich Schiller bis hin zu Paul Ricoeur, um nur einige zu nennen, in verschiedenen Spielarten darzulegen wussten.

[15] Die Menschen des Mittelalters waren sich dieses Umstands noch in einer ganz besonderen Weise bewusst. Das Wort werlt welches sie für die Welt verwendeten, beinhaltet die Vorsilbe wer, wie sie auch heute noch im Werwolf, dem Mensch-Wolf verwendet wird. Welt ist also eine menschliche Welt, die Welt wie wir sie als Menschen betrachten, und sie blickt uns mit den gleichen Augen zurück an, wie wir in sie hinein blicken.

[16] Es scheint sich bei der Seele, welche erst seit der Moderne als Psyche, -in Anlehnung an das altgriechische Wort psychae-, bezeichnet wird, um die Aufgabe einer Entwicklung zu handeln. Wie die Mythologe der alten Griechen zu erzählen wusste, handelt es sich bei der psychae um einen Schmetterling, der am Ende des Lebens den Körper verlässt, also erst durch den Tod seine vollendete Bestimmung erhält. Notwendige Voraussetzung hierfür wäre dann eine sich verpuppende und verspinnende Entwicklung während der Lebens-Spanne, eine sogenannte Psycho-Arbeit. Selbstverständlich weiß niemand, erst recht nicht ich, ob es überhaupt ein Leben nach dem Tod mit einer entsprechenden Annäherung an den Gottesbegriff gibt. Ich kann hier erneut lediglich auf die Kraft der Erzählung, der Fiktion verweisen, und wie sie unserer Wirklichkeit näher kommt als das „reale“ Denken. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass alle unsere Vorstellungen, je konkreter sie werden, umso fehlerhafter werden, sobald ich an die Prophezeiung von Zukunftsszenarien denke, frei nach dem Motto: „Es kommt immer anders als du denkst.“ Dagegen scheinen Bilder eine universelle, wenngleich verschlüsselte Wahrheit zu beinhalten, die auch bleibt. Schließlich aber können wir nun sagen, dass Psycho-Arbeit das Versprechen einer generellen Befreiung beinhaltet, weil sie auch schon zu Lebzeiten eine echte Handlungsfähigkeit bedeutet. Warum aber selbst Gott nicht in die Seele hineinzublicken vermag? Weil sie ein Selbstgegebenes ist. Ihre Aufgabe bedeutet uns einen Auftrag, der ohne Rücksicht auf Sanktionen und Belohnungen zu seiner Vollendung gebracht werden darf, wenn die Metapher von der Gottesebenbildlichkeit einen Sinn machen soll. Eine Bewertung unserer Taten würde dem Begriff der Freiheit und Selbsbestimmtheit eklatant widersprechen.

[17] :Wir kennen es von der berühmten Frage her, was denn zuerst gewesen sei: das Huhn oder das Ei.

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